Artikel 18 (Gedanken-, Gewissens-, Religionsfreiheit)

Jeder hat das Recht auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit; dieses Recht schließt die Freiheit ein, seine Religion oder Überzeugung zu wechseln, sowie die Freiheit, seine Religion oder Weltanschauung allein oder in Gemeinschaft mit anderen, öffentlich oder privat durch Lehre, Ausübung, Gottesdienst und Kulthandlungen zu bekennen.
Alle 30 Artikel der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte


Religionsfreiheit, Toleranz und Gewaltverzicht

1. Religionsfreiheit ist ein fundamentales, unveräußerliches Menschenrecht. Sie ist Teil und Ausdruck der Freiheit, die allen Menschen ohne Vorbedingungen zusteht und die sie unabhängig von der geltenden Staats- und Gesellschaftsordnung als Glieder der menschlichen Gesellschaft beanspruchen können. Wir bekräftigen, dass alle Menschen – individuell wie korporativ – das Recht haben, ihren religiösen Überzeugungen gemäß zu leben und zu handeln – unabhängig von ihrer religiösen Bindung oder weltanschaulichen Orientierung (aktive Religionsfreiheit).

2. Religiöse Freiheit ist ein ethisches Gut, dem wir uns vor Gott und der Gesellschaft verpflichtet wissen. Sie zu gewähren ist kein Zeichen von Gleichgültigkeit und Indifferenz, auch nicht nur von Toleranz, sondern Ausdruck des Gebots der Nächstenliebe, wie Jesus Christus selber es gelehrt hat: „Behandelt die Menschen so, wie ihr selbst von ihnen behandelt werden wollt.“ (Matthäus 7,12 GNB) Deshalb lehnen wir Einschränkungen der Religionsfreiheit und jede Form von Diskriminierung oder Intoleranz gegenüber religiösen Minderheiten ab. Religionsfreiheit als Grundrecht darf nicht nur gewährt, sondern muss auch garantiert, gesichert und mit Leben erfüllt werden. Als Christen sind wir überzeugt, allen Menschen Achtung und Liebe zu schulden, unabhängig von ihren religiösen oder weltanschaulichen Überzeugungen (passive Religionsfreiheit).

3. Das Grundgesetz sagt zu Recht, dass die Würde des Menschen unverletzlich ist. Alle Freiheitsrechte sind in der unveräußerlichen Würde des Menschen begründet. Als Christen glauben wir, dass jedem Menschen eine einzigartige Würde als Ebenbild Gottes gegeben ist und dass Gott selbst die Freiheit und Selbstbestimmung seiner Geschöpfe will. Aus dem Grundrecht auf Religionsfreiheit, (1) die eigene Religion oder Weltanschauung jederzeit frei zu wählen oder zu wechseln, (2) ungehindert zu verbreiten sowie (3) individuell oder gemeinschaftlich, öffentlich oder privat auszuüben – oder dies nicht zu tun, fließen weitere grundlegende Menschenrechte: (1) Gedanken-, Gewissensund Glaubensfreiheit, (2) Meinungs-, Rede- und Bekenntnisfreiheit sowie (3) Versammlungs-, Gottesdienst- und Kultusfreiheit. Andernfalls bleibt Religionsfreiheit unbestimmt und inhaltsleer, ihre Ausübung möglichen restriktiven Maßnahmen vonseiten des Staates unterworfen und somit teilweise oder völlig eingeschränkt.

4. Religionsfreiheit bedeutet für den Staat eine Aufgabe. Wir sind davon überzeugt, dass der Staat die Pflicht hat, diese grundlegenden Freiheitsrechte seiner Bürger sowie die Pluralität unterschiedlicher religiöser und weltanschaulicher Überzeugungen zu schützen und alle Menschen und Gemeinschaften zu wechselseitigem Respekt anzuhalten.1 Wir bejahen deshalb, was das Grundgesetz, Art. 4, über die unterschiedslose Geltung des Rechts auf Religionsfreiheit sagt: „Die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses sind unverletzlich. Die ungestörte Religionsausübung wird gewährleistet.“

5. Freiheit und Toleranz finden ihre Grenze am Grundrecht anderer. Wer anderen Menschen im Namen der Religion Achtung, Freiheit und Toleranz verwehrt, kann sie für sich selbst nicht glaubhaft beanspruchen. Die freiheitlich-demokratische Grundordnung unseres Staates ist nicht verhandelbar, ist es doch gerade ihr Anliegen, die Rechte aller Bürger – einschließlich der allgemeinen und unveräußerlichen Menschenrechte – wirksam zu schützen. In diesem Sinne ist das Grundgesetz ein wichtiger Garant der Religionsfreiheit. Im Falle eines Konflikts widerstreitender Grundrechte ist sorgsam darauf zu achten, dass der erstrebte Ausgleich zwischen Religionsfreiheit und Neutralitätsgebot nicht zu Lasten und auf Kosten des Schwächeren erfolgt. Denn damit wäre das zentrale Anliegen der Religionsfreiheit infrage gestellt, die ja gerade Minderheiten vor dem Diktat der Mehrheit (einschließlich staatlicher oder religiöser Institutionen) schützen soll. Dies hat sich u.a. am Kruzifixurteil sowie am Streit über das Kopftuch gezeigt. Die Unterscheidung von „positiver“ und „negativer“ Religionsfreiheit trägt dazu bei, das Wesen der Religionsfreiheit als eines Minderheitenschutzrechtes zu verdunkeln.2

6. Der religiöse Minderheitenschutz verlangt den Verzicht auf alle Formen von Gewalt, die das unveräußerliche Grundrecht auf Religionsfreiheit gefährden, einschränken oder verwehren. Gewaltverzicht ist für uns Christen Folge und Frucht des Friedens, den Jesus Christus, der selbst für Gewaltlosigkeit eintrat, verheißen und gebracht hat. Deshalb verzichten wir auf alle Versuche, unsere eigenen Überzeugungen anderen aufzudrängen und setzen uns entschieden für Gewaltlosigkeit ein. Das allein dem Staat vorbehaltene Recht auf Gewalt (das sog. Gewaltmonopol) soll dazu dienen, das friedliche und gewaltfreie Zusammenleben von Menschen und Gruppen aller religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisse zu ermöglichen und zu gewährleisten. Freie Religionsausübung setzt das Bekenntnis aller Religionen zur Gewaltlosigkeit sowie die religiös-weltanschauliche Neutralität des Staates voraus.

7. Wir bejahen die religiös-plurale Kultur und Gesellschaftsordnung Europas, die es allen Menschen erlaubt, ihren eigenen Überzeugungen gemäß zu leben. Es ist Aufgabe des freiheitlich-demokratischen Rechtsstaates, allen Bürgern die freie und ungehinderte Ausübung ihres Glaubens zu ermöglichen. Die dazu erforderliche religiösweltanschauliche Neutralität des Staates ist kein Zeichen von Indifferenz oder Geringschätzung christlicher Überzeugungen und Werte. Sie soll vielmehr dazu dienen, die unbedingte und unparteiische Einhaltung des Grundrechts auf Religionsfreiheit zu sichern. Indem er allen Bürgern unabhängig von ihrem Bekenntnis sowie allen Glaubensgemeinschaften unabhängig von ihrer Größe die gleichen Grundrechte garantiert, fördert der säkulare Staat das friedliche Miteinander der Religionen und Weltanschauungen zum Wohle der Gesamtgesellschaft. Dass dies in unserem Land prinzipiell, wenn auch nicht uneingeschränkt geschieht, ist für uns ein Grund zur Dankbarkeit, aber auch Anlass zu wachsamer Aufmerksamkeit sowie zum verantwortungsvollen Engagement in der Gesellschaft.

8. Wir bekennen zugleich unseren Glauben an Jesus Christus als dem einzigen Weg zum Heil sowie unser Vertrauen zur Heiligen Schrift als dem einzig verbindlichen Wort Gottes – unbeschadet der heute vorherrsche nden kulturellen, weltanschaulichen und religiösen Vielfalt. Wir sehen in diesem Bekenntnis keinen Widerspruch zum christlichen Toleranzgebot, sondern dessen eigentliches und tragendes Fundament, da dieses Bekenntnis die Liebe Gottes zu allen Menschen einschließt. Von Anfang an waren die christlichen Freikirchen der Überzeugung, dass das Gewissen des Menschen frei sein muss von jeglicher staatlichen oder kirchlichen Bevormundung und allein Gott und seinem Wort gegenüber verpflichtet ist. Deshalb lehnen wir jede Missachtung der Unverletzlichkeit und Würde der Person sowie jede Ausübung von Zwang oder Gewalt entschieden ab, die die Religions- und Gewissensfreiheit beeinträchtigen oder gefährden könnten. Christliche Glaubenswahrheit und konfessionelle Identität einerseits sowie religiöse Toleranz und prinzipieller Gewaltverzicht andererseits schließen sich nicht gegenseitig aus. Nicht trotz, sondern wegen und aufgrund unseres christlichen Bekenntnisses treten wir entschieden für Religionsfreiheit, religiöse Toleranz und den umfassenden Verzicht auf die gewaltsame Durchsetzung religiöser Ansprüche ein.

9. Wir verpflichten uns, die Grundwerte der religiösen Freiheit und Toleranz mit Nachdruck zu vertreten – in unseren eigenen Kirchen ebenso wie in der Öffentlichkeit – und alle Menschen zur Wahrung dieser unaufgebbaren Prinzipien anzuhalten und anzuleiten. Die Globalisierung verlangt keine religiöse Uniformität, sondern ruft nach friedlich-konkurrierender Pluralität. Die Erziehung der Gesellschaft zur gewaltfreien Lösung von Konflikten, zu wohlwollender Toleranz zwischen den Religionen und zur unparteiischen Achtung der religiösen Freiheit anderer ist ein hohes Ziel, das alle gesellschaftlichen Kräfte in die Pflicht nimmt – nicht zuletzt die christlichen Kirchen. Wir erkennen darin eine zentrale Aufgabe und Herausforderung für unser eigenes Denken, Reden und Tun. Auch in unseren Freikirchen haben viele noch nicht die Bedeutung dieser Grundwerte ausreichend verstanden.

10. Wir rufen alle Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften in unserem Land dazu auf, ihre Interessen grundsätzlich gewaltfrei zu vertreten, gegenüber Andersdenkenden und -glaubenden tolerant zu sein und das unveräußerliche Grundrecht auf Religionsfreiheit vorbehaltlos zu bejahen, aktiv zu verteidigen und nachhaltig zu schützen. Nur so lassen sich Gerechtigkeit, Frieden und Freiheit in einer multikulturellen Gesellschaft sicherstellen. Wer sein Grundrecht auf religiöse Freiheit und Selbstbestimmung ausüben will, darf gegenüber den unveräußerlichen Rechten anderer nicht ablehnend oder gleichgültig sein. Er sollte auch nicht auf Privilegien pochen, die die Neutralitätspflicht des Staates verletzen. „Im demokratischen Rechtsstaat gilt das Recht auf Unterschiede, aber es gilt kein unterschiedliches Recht.“ (Johannes Rau)


1 Die „Allgemeine Erklärung der Menschenrechte“ der Vereinten Nationen von 1948 bestimmt in Art. 18: „Jeder Mensch hat Anspruch auf Gedanken-, Gewissens - und Religionsfreiheit; dieses Recht umfasst die Freiheit, seine Religion oder seine Überzeugung zu wechseln sowie die Freiheit, seine Religion oder seine Überzeugung allein oder in Gemeinschaft mit anderen, in der Öffentlichkeit oder privat, durch Lehre, Ausübung, Gottesdienst und Vollziehung von Riten zu bekunden.“ Nahezu gleichlautend erklärt auch Art.9 der Europäischen Menschenrechtskonvention von 1950: „Jede Person hat das Recht auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit; dieses Recht umfasst die Freiheit, seine Religion oder Weltanschauung zu wechseln, und die Freiheit, seine Religion oder Weltanschauung einzeln oder gemeinsam mit anderen öffentlich oder privat durch Gottesdienst, Unterricht oder Praktizieren von Bräuchen und Riten zu bekennen.“ In der „Charta Oecumenica“ (2001) erklären die unterzeichnenden Kirchen in Europa: „Wir verpflichten uns, die Religions- und Gewissensfreiheit von Menschen und Gemeinschaften anzuerkennen und dafür einzutreten, dass sie individuell und gemeinschaftlich, privat und öffentlich ihre Religion oder Weltanschauung im Rahmen des geltenden Rechtes praktizieren dürfen; für das Gespräch mit allen Menschen guten Willens offen zu sein, gemeinsame Anliegen mit ihnen zu verfolgen und ihnen den christlichen Glauben zu bezeugen.“

2 Es ist heute üblich, das Recht, eine Religion oder Weltanschauung zu haben und individuell oder gemeinschaftlich auszuüben und zu verbreiten, als „positive“ Religionsfreiheit zu bezeichnen (Ausstrahlungsfreiheit). Dem gegenüber wird – seit der Paulskirchenverfassung (1849) – die Freiheit „vom Glauben“, d.h. keine Religion oder Weltanschauung haben, bekennen und ausüben zu müssen, als „negative“ Religionsfreiheit gekennzeichnet (Abschirmungsfreiheit). Diese juristisch notwendige Unterscheidung wird oft als Wertung missverstanden. Dies gilt insbesondere für religiöse oder weltanschauliche Minderheiten, deren Recht auf Abschirmungsfreiheit „negative“ Religionsfreiheit genannt wird, wie z.B. in der Debatte um das Kruzifix-Urteil des Bundesverfassungsgerichts. Wenn nun in jüngster Zeit auch Bevölkerungsmehrheiten ein Recht auf negative Religionsfreiheit reklamieren, ist die Verwirrung vollkommen, wie im Streit um das Kopftuch im öffentlichen Dienst oder die Einführung des Werteunterrichts in Berlin. Es ist zu fragen, ob die Differenzierung der Religionsfreiheit als „positiv“ oder „negativ“ nicht besser unterbleiben sollte.


 Diese Erklärung wurde von der  Mitgliederversammlung der „Vereinigung Evangelischer Freikirchen“ (VEF) am 24. November 2005 einmütig abgegeben.
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